Ich halte Snapchat für gefährlich, und zwar aus mehreren Gründen:
- Durch die vermeintlich zeitlich begrenzte Sichtbarkeit der Fotos und Videos suggeriert es Anonymität, die zu leichtsinnigen (freizügigen/rechtlich bedenklichen) Aufnahmen führen kann. Die Inhalte werden nach dem Ansehen aber nicht physikalisch vom Empfänger-Handy gelöscht.
- Jedermann kann ein empfangenes Foto per Tastendruck oder App abfotografieren und zu anderen Zwecken nutzen.
- Alle Inhalte dürfen von Snapchat und seinen Partnern verwendet, verändert und verändert werden.
- Die unverschlüsselte Speicherung der Daten auf US-Servern ermöglicht einen direkten Zugriff des Kommunikations-Geheimdienstes NSA.
5. Das aus meiner Sicht gravierenste Argument gegen Snapchat ist, dass die App die Selbstdarstellung fördert wie keine andere. Standardmäßig ist die Frontkamera des Smartphones aktiviert. Sie ermuntert den Nutzer gleich zu beginn dazu, ein Bild oder Video von sich zu machen und es anderen zu schicken. Neue Kontakte lassen sich über diverse Wege (Adressbuch, Umkreissuche, Snapcode / QR-Code) hinzufügen.
Gerade jungen Menschen, die in körperlichen, geistigen und seelischen Veränderungen stecken, kann die dauernde Inszenierung des eigenen Lebens und der dauernde Konsum anderer inszenierter Leben ein falsches Bild von „Normalität“ vermitteln. Das wahre Leben wird auf Snapchat nämlich nicht dargestellt. Was wäre, wenn Snapchat das echte, authentische Leben abbilden würde? Nasepopeln auf dem Klo, Langeweile in der Schule, Dösen im Bus, Stundenlanges Wischen auf dem Handy?
Doch den Alltag, der aus Gewohnheiten, Normalitäten und Banalitäten besteht, sieht man hier nicht. Snapchat fordert geile Gesichter und krasse Körper in extremen Situationen. Und wenn ich etwas schicken will, obwohl es nichts zu schicken gibt, sorgen bunte Filter und ein flotter Kommentar sorgen für das nötige Make-Up.
Das Impulspapier „Virtualität und Inszenierung“ der Deutschen Bischofskonferenz hat 2011 die durch digitale Medien geförderte Inszenierung auf den Punkt gebracht:
Bilder sind oftmals nun die „performance“ einer Realität, die es ohne sie nicht gibt.
… und an anderer Stelle:
Authentisches Handeln, zu anderen und zu sich selbst stehen zu können, ist unabdingbar in dem Bemühen, menschliches Leben gelingen zu lassen.
Angesichts der detaillierten Situationsanalyse und fundierten Kritik der Bischöfe an unbedachter Inszenierung im Netz ist es umso erstaunlicher, dass Teile der Kirche offenbar unbedacht mit dem Medium Snapchat umgehen.
Das Bistum Münster hat Fünft- und Zehntklässlern 2016 eine Postkarte mit einer Gruß von Bischof Felix Genn zugestellt, die einen Verweis auf den neuen Snapchat-Kanal der Diözese enthielt. Als ich davon erfuhr, traute ich meinen Ohren nicht, immerhin hat das Bistum eine der modernsten und qualifiziertesten Kommunikationsabteilungen überhaupt. Doch hier ist etwas schief gelaufen.
Den Snapchat-Bischof können freilich nur diejenigen sehen, die Snapchat haben.
Und das sollten Fünftklässler ganz sicher nicht.
Zum einen liegt das Mindestalter zur Snapchatnutzung bei 13 Jahren. Alle Missbräuche sind so zwangsläufig von den Eltern zu verantworten, weil Snapchat auf die unrechtmäßige Nutzung gemäß ihrer AGB verweisen kann:
Personen unter 13 Jahren dürfen weder einen Account eröffnen noch die Services nutzen.
Ich halte den Verweis auf den Bischofskanal bei Snapchat aber vor allem deshalb für gefährlich, weil 10jährige (Fünftklässler) noch weniger als 13-, 14- oder 15jährige in der Lage sind von den Selbstdarstellungen, Übertreibungen und Narzissmen, die in Snapchat auf sie einprasseln, zu abstrahieren. Können Kinder und Jugendliche hinter dem Chatpartner mit seinen crazy Effekten und lustigen Sprüchen die authentische Person, die ungeschminkte Persönlichkeit, das echte Leben in all seiner Normalheit und Langeweile, aber Echtheit, entdecken?
Jesus hätte gewiss kein Snapchat benutzt, dafür war er zu real.
Von Facebook weiß man, dass der Vergleich mit anderen Lebenssituationen (die dort ebenfalls oft besonders toll, besonders ärgerlich oder besonders traurig – auf jeden Fall immer extrem sind) bei den Nutzern zu Depressionen führen kann. Bei Snapchat besteht neben dieser vor allem die Gefahr einer verzerrten Wahrnehmung der Wirklichkeit. Kinder und Jugendliche davor zu bewahren – und den kritisch-wohlwollenden Dialog über Jugend-Apps mit ihnen zu suchen – ist Aufgabe der Eltern, der Schule und der Kirche.
Dass Kirche neue Wege der Glaubenskommunikation geht, ist richtig und wichtig, aber nicht, wenn er in den Nebel führt.
[EDIT 9.4., 13:34 Uhr: Link zum DBK-Papier eingefügt]
[EDIT 9.4., 15:14 Uhr: Korrektur Inhalt Facebook-Studie. Danke, Jesaja Michael Wiegard!]
[EDIT 18.4., 22:00 Uhr: Über diesen Artikel wurde in der Facebookgruppe „Kirche und Social Media“ lebendig und kontrovers diskutiert. Ich danke allen Beteiligten für das Feedback, das mir einige alternative Blickweisen auf das Thema Snapchat eröffnet hat, auch wenn wir in der grundsätzlichen Einschätzung der App nicht übereingenommen sind. Viele Kommentare bezogen sich vor allem darauf, dass meine Kritik grundsätzlich für alle sozialen Netzwerke gelten müsse. Auch Thomas Mollen, Leiter der Digitalen Kommunikation im Bistum Münster, widersprach meinen Thesen in vielen Punkten.
In seinem Kommentar hat er u.a. darauf hingewiesen, dass in der diesjährigen Bischofspost an die Fünftklässler kein Hinweis auf Snapchat mehr enthalten ist. Die Altersbeschränkung im vergangenen Jahr übersehen zu haben bezeichnet er als Fehler.]
Lieber Michael,
ein paar kurze Gedanken zu deinem Text möchte ich loswerden:
1. In wiefern hat das Bistum Münster denn durch seine Initiative auf Snapchat dazu beigetragen, dass Jugendlich dazu angestiftet werden, sich selbst darszustellen – ja sogar verzerrt selbst darszustellen? Ich habe die Aktivitäten verfolgt und finde, dass das Bistum Münster hier deutlich einen Gegenpol gesetzt hat – nämlich Post mit Inhalt veröffentlich hat. Man muss weder die Post noch die Inhalte mögen, ihnen allerdings zu unterstellen – wenn auch indirekt – sie förderten die Selbstinszenierung, finde ich deutlich daneben. Aber vielleicht hast du ja Beispiele parat, die mich vom Gegenteil überzeugen.
2. „Dass Kirche neue Wege der Glaubenskommunikation geht, ist richtig und wichtig, aber nicht, wenn er in den Nebel führt.“ – also im Umkehrschluss: Wir lassen die Menschen im Nebel allein, statt zu versuchen, mit Ihnen zusammen den Weg zu gehen und vielleicht Licht in den Nebel zu bringen? Ich bin völlig bei dir, dass Kirche nicht blind und aufgesetzt jeden Medientrend folgen muss – aber ich bin dankbar für jede Initiative, die sich in ein neues Gebiet aufmacht um auszuloten, was geht und was auch nicht geht. Dafür bin ich den Kollegen aus dem Bistum dankbar.
3. Meinst Du wirklich, dass wir als Kirche aktuell noch das Standing haben, in der wir einfach eine eigene „JugendApp“ auf den Markt werfen und damit gegen die Platzhirsche ankommen? Was haben wir zu bieten, dass Menschen ihr gewohntes Umfeld, sei es Snapchat, Facebook oder was auch immer verlassen, um sich in unserer App anzumelden? Warum sollen wir denn wieder eine eigene Mauer hochziehen, statt dort zu sein und vor allem dort zu wirken, wo die Menschen auch sind. Das Bild von den Menschen die von alleine zu uns in die Kirche kommen, haben wir uns doch schon langsam verabschiedet, oder? Warum sollten wir die Chance liegen lassen, dieses Umfeld – auch wenn es kritisch ist – mit unseren Wertvorstellung mitzugestalten und zu prägen?
Dieser Post wurde in der Facebookgruppe „Kirche und Social Media“ intensiv und konstruktiv diskutiert.
Meine Antwort und der weitere Gesprächsverlauf als Screenshot:
Pingback:What’s App, Mama? – (K)eine Buchkritik | Kirchengezeiten