Das falsche Spiel mit unserem Interesse – oder: Warum wir Tiktok, Insta und Co. piepegal sind

Frau mit Smartphone vor Stadt-Kulisse. Eine fast unsichtbare Hand greift nach dem Smartphone. Grafik, dunkel. KI-Generiert.
Und wir dachten, es ginge um uns.

Was nervt dich im Internet am meisten? Für Schüler*innen ist die Antwort klar: Werbung. Wenn ich Workshops in Schulen gebe, fällt es mir nicht schwer, Verständnis für die Position der Jugendlichen aufzubringen. Selbst der beste Ad-Blocker schafft es nicht, alle Werbebanner und Sponsored Posts aus Apps, dem Browser oder dem Social-Media-Feed zu tilgen. Und die verbleibende Menge an Anzeigen ist immer noch enorm. Was ich den jungen Menschen in den Workshops zu vermitteln versuche, ist, dass Werbung grundsätzlich vollkommen legitim ist. Schließlich ist sie der Preis, den wir für die scheinbar kostenfreien Apps, Videos und Social-Media-Anwendungen zahlen. Und personalisierte, d. h. auf uns zugeschnittene Werbung auf Insta, Tiktok, Youtube oder Google, ist für die meisten Nutzer*innen sicherlich auch weniger nervig als Anzeigen, die völlig an ihnen uns werben.
Das Problem liegt aber woanders.

Der hohe Preis, den wir für unsere Lieblingsapps zahlen, ist nicht das Ertragen von Werbung, sondern die Personalisierung selbst – und hier kommt zumindest mein Empfinden von Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit an ihre Grenzen. Denn die auf unser vermeintliches Interesse zugeschnittenen Inhalte und Anzeigen speisen sich durch unzählige Daten, die die entsprechende App oder Anwendung von uns sammelt, an Werbenetzwerke und Datenhändler weitergibt und so zu Geld macht. Dabei geht es um Inhaltsdaten wie Posts, Likes oder Kommentare – also Informationen, die wir Nutzer*innen aktiv (und bestenfalls bewusst) ins weltweite Netz stellen. Doch hauptsächlich speist sich die Datensammlung aus Metadaten, also Gesprächsverläufen, Standorten und Handyinformationen … und vielen weiteren Informationen! Diese Informationen werden im Hintergrund gesammelt und können von der jeweils aktiven App jederzeit abgefragt werden. Über die App-Berechtigungen in den Handy-Einstellungen können Nutzer*innen zwar einigen Datenquellen den Hahn zu drehen – das zu lernen ist eines der Kernelemente meiner Workshops – doch die meisten Datenquellen tauchen dort gar nicht erst auf! Whatsapp etwa hat die Berechtigung, auf 81 Datenquellen zuzugreifen, inklusive der Informationen über WLAN-Geräte in der Nähe, der Kontrolle über Bluetoothverbindungen und dem Zugriff auf das Dateisystem!

Folie aus meinem Workshop „Smartphones im Griff“.

Wie umfangreich der Datenschatz ist, den sie täglich unwissentlich verschenken, wissen meine Schüler*innen nicht (zumindest nicht vor unserem gemeinsamen Workshop), und vermutlich wissen das auch die meisten Erwachsenen nicht. Ich mache ihnen keinen Vorwurf. Denn die Anbieter bemühen sich redlich, die Quellen und die Verwendung von Daten hinter unkonkreten und unverständlichen Formulierungen in Cookie-Bannern und Datenschutzerklärungen zu verstecken. Ein Fakt ist hingegen, dass der globale Markt für den An- und Verkauf von Daten 350 Mrd. Euro wert ist!
Jede*r Nutzer*in muss selbst entscheiden, ob die (monetär!) kostenfreie Mitgliedschaft in dem Sozialen Netzwerk oder die Messenger-Anbindung eine angemessene Gegenleistung dafür ist, eine unbestimmte Menge persönlicher Informationen kommerziell verwursteln zu lassen, und dann auch noch mit Werbung zugeschüttet zu werden.

Warum machen wir das mit? Weil wir uns einlullen lassen von Begriffen wie For-You-Feed (Tiktok), Personalisierung des Nutzerelebnisses, Verbesserung der Nutzererfahrung oder Empfehlungen aufgrund Ihres Interesses. Dabei ist Tiktok, Insta, Youtube und Google piepegal, was uns interessiert! Ein katholisches Pferdemädchen aus dem Emsland, das die App nutzt, ist den Konzernen ebenso recht wie ein rechtsextremer Mittsechziger mit Hitlerbart. Hauptsache, so das Kalkül, die Leute bleiben alle möglichst lange in der App (und Hand aufs Herz: Wer von uns war nicht schon einmal länger auf Insta oder Tiktok, als sie*er eigentlich vorhatte?). Denn je länger die Nutzer*innen bleiben, desto eher klicken sie auf Werbung, die bei den Plattformen die Kassen klingeln lassen.
So gelesen bedeutet Verbesserung der Nutzererfahrung:
Wir verbessern, wie wir noch mehr vom Nutzer erfahren.
Für uns Nutzer*innen ist das personalisierte Nutzungserlebnis kein Erlebnis, zumindest keines, bei dem wir selbst mitzureden haben. Intransparente Sortieralgorithmen führen uns in die Unmündigkeit, in der die freie Entscheidung, die App einfach zu schließen, vor dem unheiligen Dreigestirn aus Wohlfühlinhalten, FOMO – der Angst etwas zu verpassen – und Werbung kapituliert.

Nutzererfahrung heißt: Wir verbessern, wie wir noch mehr vom Nutzer erfahren.

Ist das denn ein Problem?
Möglicherweise für die meisten nicht. Und möglicherweise ist genau das das eigentliche Problem.
Wir, und da schließe ich mich mit ein, haben uns jahrelang von dem Begriff Interesse irreleiten lassen. Wir haben angenommen, es ginge dabei nur um persönliche Werbung, von der wir ja schließlich etwas hätten. Wir haben tatsächlich gedacht, es ginge auf Tiktok, Insta und anderen Diensten um uns!
Dass jemand ganz anderes von unserem vermeintlichen Interesse profitiert, ja, dass dieser Begriff nur der Köder ist, der uns zur freiwilligen Abgabe von Daten und Lebenszeit bewegen soll, finden wir weder in den Nutzungsbedingungen noch den Datenschutzerklärungen der Dienste.

Und wir sind einem weiteren Irrtum aufgesessen: Wir dachten, dass das alles normal sei, dass das Internet eben so funktionieren würde: Wir bekommen eine kostenfreie App, die sammelt unsere Daten, und daraus wird Werbung gemacht, von der die App lebt. Vielleicht dachten wir sogar, das sei eine Win-win-Situation! Das extreme Ungleichgewicht zwischen Plattformanbietern und Werbeindustrie einerseits und uns Nutzer*innen andererseits haben wir nicht wahrgenommen. Daran ist absolut nichts normal. Gewinne, die durch unlautere Geschäftspraktiken erzielt werden, sind rechtlich verboten und moralisch verwerflich! Und nichts anderes als eine unlautere Geschäftspraxis ist die Manipulation, mit der uns die Sortieralgorithmen in den Apps halten. Nicht anderes ist das Verschweigen und Verschleiern von Informationen, die die Nutzer*innen für eine bewusste Entscheidung für oder gegen einen Dienst benötigen würden. Gegen Instagram, Facebook und Tiktok laufen deshalb gerade Klagen (siehe hier und hier).

Eine weitere Schattenseite der algorithmischen Interessenverwertungsmaschine habe ich in meinem Buch Die Mensch-App beleuchtet: Durch das ständige Konfrontiert-Sein mit der eigenen und dieser nahestehenden Meinungen verengt sich unser Blick. Und je mehr Informationen wir über Social Media empfangen, desto mehr verengt sich auch unser Blick auf die Welt. Denn viele Sichtweisen geraten gar nicht mehr in unser Blickfeld, weil sie von kommerziell motivierten Algorithmen an uns vorbeigeleitet werden, weil sie uns ja angeblich gar nicht interessieren. Die Kluft zwischen verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Vorstellungen, die dieser Tage größer zu werden scheint, dürfte zu einem erheblichen Teil auf die intransparenten Algorithmen der Sozialen Netzwerke zurückgehen. Eine Schande, dass die Regierungen dieser Welt die Unternehmen bislang nicht dazu verpflichtet haben, die Funktionsweise ihrer Algorithmen offenzulegen! Dabei wäre eine gesetzliche Verpflichtung, Geschäftsgeheimnisse preiszugeben (so rechtfertigen sich die Unternehmen immer), im Vergleich zu dem Schaden, den die algorithmischen Scheuklappen der Demokratie zufügen, sicher vertretbar.

Es geht also doch um uns.
Um uns und unsere Macht im Netz.
Wir haben Macht gegenüber den Konzernen, indem wir eine App nutzen oder eben nicht nutzen. Wir haben Macht in der Politik, die der globalen Datensammlung bislang nicht genug entgegengesetzt hat, indem wir die verantwortlichen Parteien an der Wahlurne zur Rechenschaft ziehen. Und wir haben Verantwortung für die Gesellschaft. Dass deren Auseinanderdriften mit dem Verhalten von Konzernen und Politik zu tun hat, enthebt uns nicht der Verantwortung, selbst wahrzunehmen und weiterzugeben, was durch Interesse und Nutzererfahrung verschleiert wird. Dass meine Meinung nicht die Einzige ist.
Dass es da andere Meinungen gibt, die ich aber erst einmal hören muss, um sie einordnen zu können.
Dass mir dieses Einordnen kein Algorithmus abnehmen kann.
Dass die Auseinandersetzung mit fremden Meinungen Kraft und Zeit kostet.
Dass sie aber meinen Blick auf die Welt weitet.
Und schließlich: dass die Welt nicht schwarz-weiß ist, sondern bunt.

Dass das so bleibt, ist in meinem Interesse.
In deinem auch?

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